Erwartungen – “All inclusive!”

Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus – der Schwarm muss zusammen halten. Aber wie machen das eigentlich Menschen, die ja verschiedenen Schwärmen gehören? Was gibt Orientierung, wenn jedes Netzwerk andere Ziele ansteuert? Unter Menschen sind Schwärme offen und konstant zugleich. Mitglieder wechseln. Wie verstehen sie sich untereinander, wenn jeder mit seinem individuellen Profil andere innere Bilder anfertigt und keiner sie kennt?

Der Theorie sozialer Systeme nach gelingt es durch eine Art Transmitter – der Erwartung. Luhmann stellt damit ein Instrument zur Verfügung, mit dem die Entwicklung und Organisation schier unbegrenzter Komplexität unserer Welt nachvollziehbar wird. Ein zeitgleiches Management mehrerer Netzwerke ist möglich, weil sich das Bewusstsein von der Gegenwart trennen und das Gehirn seine zukünftigen Vorstellung in separaten Dimensionen flexibel kombinieren kann.

Dazu gehört die Trennung von Erleben und Handeln: in den Köpfen wird immer deutlich mehr bewegt, als sich in gegenwärtige Handlung umsetzen lässt. Unsere soziale Zugehörigkeit teilen wir auf die verschiedenen Funktionsbereiche auf. Und vor allem: Informationen werden unabhängig von einer möglichen Gültigkeit behandelt. Denn nicht Ego gibt den Ton an, sondern ein Alter, das es real so gar nicht gibt. Dieser “Alter” entsteht bereits im vor dem eigentlichen Kontakt – aus der Annahme Egos, dass ein Konsens mit Alter bei bestimmten Unterstellungen gelingt. Beide suchen den größtmöglichen Nenner um verstanden zu werden – blähen die KontaBildschirmfoto 2015-01-11 um 12.16.16ktfläche für alles Soziale maximal auf. Konkret muss die Fähigkeit zur Mitempfindung alles abscannen, wo Interesse und Verständnis herauszuholen ist. Und parallel läuft der interne check-up, welche der echten, eigenen Absichten angebracht ist – oder besser hinter Fassaden und Rollen verborgen bleibt.

Opportunität, Notlügen und schlechtes Gewissen hält unsere Netzwerke zusammen. Diese Antizipation in doppelter Kontingenz zwingt zur Zeitvorstellung. Das steigert die Komplexitätschancen enorm, weil sich die beteiligten Systeme weit über das bisher biologisch notwendige Maß öffnen müssen. Luhmann misst Erwartungen deshalb die zentrale Bedeutung bei allen soziologischen Analysen bei (1984, S.198).

Der besondere Kniff daran ist, dass dabei beide Seiten mit Vertrauen arbeiten – bei Wirklichkeit ansetzen, obwohl sie im Prinzip wissen, dass es jeweils nur Möglichkeiten sind. Diese Theorie versteht unter dem Begriff Erwartung also weit mehr, als wir uns im Alltag bewusst machen. Damit lässt sich aber nun viel Zwischenmenschliches verstehen.

Erwartungen heute sind der Stressfaktor bei social media, wie Whats app, wenn man weiß, dass andere sehen, dass man online ist und überlegt, ob man auch adäquat reagiert hat. Im Fluss des Geschehens, wo Worte und Taten nicht mehr an die Gegenwart gekoppelt sind, gibt es auch keine wirklichen Korrekturchancen mehr für Notlügen. Es gibt keine wirkliches Gegenüber bei Aggressionen. Keine Entschuldigung beim Ärger über sich selbst, wenn man wieder mal etwas getan oder gesagt hat, was man eigentlich gar nicht wollte.

Diese Phänomene kannten Menschen vor der Einführung von Sinn offenbar nicht. Für Maturana gestalteten sich Kommunikationen in einer Zirkularität aus Erleben und Handeln, einer gegenwärtigen Synchronisation psychophysischer Zustände auf der Basis von Empathie (Maturana/Verden-Zöller 2005, 20ff).

Seitdem wir uns am Sinn orientieren wird diese Mitempfindung zum Versuchsballon in Kommunikationen. Vielfalt gedeiht nun besonders rasch, weil Erwartungen schon auf biologischer Ebene strukturell vorgegeben sind. Somatische und kognitive Reiz-Gegenreiz-Konfigurationen sind zu neuronalen Paketen – Repräsentationen oder inneren Bildern – gebündelt, die schnelles Handeln sichern.

1311167210645 Ihr Inhalt ist nach Bedeutungen gepackt, ist der Kontrolle eines internen Präferenzsystems unterworfen… (Damasio, 2006,245). Und diese Bedeutungen entstehen nicht nach eigenem Gutdünken, sondern sind dem Einfluss äußerer Umstände ausgesetzt, wozu nicht nur Objekte und Ereignisse gehören (…), sondern auch soziale Konventionen und Regeln. (ebd) Emotionen sind für ihn das Resultat gelingender oder misslingender Synchronisation von Bedeutungszuschreibungen, inszeniert durch die bewertende Funktion des Nervensystems. Damasio (2006, 243ff) nennt dies somatische Markerfunktion. Das heißt: tief in unseren Bewegungs- und Denkmustern sind wir auf Einklang mit der Umwelt ausgerichtet. Auch das Gehirn ist ein soziales Organ (Hüther,2007) und wird durch das Gefühl gesteuert. Gelingende Bewertung steuert unser Denken und unsere Emotionen (vgl. Holodynski 2006, 172ff).

Wir begründen unser Verhalten, indem wir es mit anderen vergleichen und leiten unser Rechtsempfinden und unsere Würde davon ab. Was du nicht willst, das man dir tu … – die Goldene Regel findet sich in allen Kulturkreisen als letzte zurückrechenbare Einheit zur Orientierung, welcher Wert im Miteinander gültig ist. Eine Sache, die sich immer wieder ändert – neu ausgehandelt und mühsam ins Bewusstsein gebracht werden muss.

Die gute Nachricht: der Inhalt unserer Pakete ist so tief verschlüsselt, dass ihn kein Geheimdienst entschlüsseln könnte. Er ist selbst dem eigenen ich verborgen. Nur so aus dem Bauch heraus ist schnelles Reagieren möglich. Wer schon mal im Pariser Strassenverkehr selbst mit dem Auto unterwegs war, weiß was gemeint ist.

Aber fühlen kann man sie – immer, wenn eine Störung bei den konzertierten Aktivitäten auftritt, alarmiert das Gefühl. Das wirkt auch über Sprache. Berichte über Unfälle oder Erlebnisse in schwindelnder Höhe können schon beim Zuhören Erschauern auslösen. Störungen treten auch bei Einschätzung und Zuordnung von Bewertungen auf. Beim Fremdschämen lässt sich erleben, dass der hochriskante Balanceakt auch daneben gehen kann. Wir fühlen es mit, weil wir täglich unbewusst versuchen, diesen GAU zu vermeiden.

So stellt auch Popper (1972,16) fest: Wenn ein höherer Organismus zu oft in seinen Erwartungen getäuscht wird, bricht er zusammen. Und Hüther (2005,43) ergänzt: Besonders betroffen sind Individuen mit einem unzureichend entwickeltem Repertoire an Verhaltens- (Coping-) Strategien. Psychische Belastungsstörungen könnten hier in dieser nicht endenwollendenden Feinjustierung ihre Ursache haben.

Vor allem zwei Lebensabschnitte sind davon betroffen: Jugend und Alter – Phasen, in denen auffällig viel gespielt wird. Je komplexer sich die Umwelt gestaltet, desto mehr droht in beiden Phasen die systemische Katastrophe: das Missverhältnis zwischen Schließung und Öffnung.

Zukunftschancen werden im abstrakten Sprachraum ausgehandelt, ihre Bedeutungen müssen interpretiert werden. Das Problem liegt in der Erfassung ihrer Echtheit (Oerter/Montada,579). Was ist Notlüge, was wird verheimlicht, welche Hintergründe gibt es? (…) Jugendliche ohne Erfahrung mit Selbstwirksamkeit sind mit der Interpretation überfordert und verunsichert. Denn egos Pakete können aber nur aus früheren Erfahrungen zusammengestellt werden können – gegenläufig zur Zeit (s. Luhmann, 1984, 198). Hat man die nicht, muss sich das Bewusstsein für die antezipierende Feinabstimmung immer weiter öffnen. Aber das Bewusstsein konstituierende Nervensystem als lebendes System kann sich nur in der Gegenwart verhalten (s. Maturana 2000, 47). Ohne entsprechenden Resonanzboden ist deshalb die Stabilität des ich bedroht.

In solchen Fällen greift auch das bewusste Individuum offenbar gern auf archaische Orientierungsmuster zurück und vertraut lieber der Masse, als der eigenen Wahrnehmung. Ein verständliches Verhalten, da sich die Gültigkeit einer Information auch in unserer Entwicklungsgeschichte aus der Übereinstimmung in mit anderen ergab.

Dieser Unsicherheitsreflex hat sich auch nach Des Kaisers neue Kleider nicht abgebaut, was sich leicht an den Kommunikationsströmen im social web beobachten lässt. Wer aber über facebook gemobbt wurde, hat auch erfahren, dass die Grundlage aus Zeiten der Schwarm­intelligenz manipulierbar geworden ist. Eine Information kann sich durch die kraftvoll in Szene gesetzte subjektive Bewertung zu einem Machtfaktor entwickeln, der soziale Ströme bündelt und mit härtester Wucht einzelne Elemente trifft. Nicht ohne Grund verursachen psychosoziale Konflikte und die Angst vor sozialer Isolation den höchsten Stress.

Mit jedem gelungenen Versuch häuft sich auf dem Resonanzboden mehr eigene Vergangenheit an. Länger anhaltende Selbstwirksamkeit verfestigt die inneren Bilder – der Inhalt der Pakete ändert sich kaum noch. Die Welt verändert sich jedoch weiter – bisher erfolgreiches Erwartungsverhalten ist dann im Fluss der Antezipationen nicht mehr synchronisationstauglich. Die Wahrscheinlichkeit, dass der somatische Marker Enttäuschung meldet, steigt. Und Resignation, weil Hoffnung Zeit braucht und Synchronisationen sinnlos werden.