Sinn

In einer sinnlosen Welt ist am wenigsten sinnlos, was nicht vorgibt, sinnvoll zu sein.
Ludwig Marcuse (1894-1971)

Der Joker

Jedem das Seine. Sinn regt die Sinne an, macht aus Rauschen Töne. Angenehm, wenn es um die Wahl des Berufes, des Partners oder des Fernsehprogramms geht. Aber Sinn ist hier unabhängig von persönlicher oder kultureller Präferenz als Summe aller menschlichen Werte und Bedeutungen gemeint. Es geht hier um das Prinzip, dass physische Menschen von ihrer Psyche dominiert werden. Von einem Bewusstsein, das Irritationen bei Unbestimmtem sucht und sich dabei immer mehr selbst fixiert. Von der Faszination aus subjektiver Perspektive bleibt dann nicht mehr viel übrig – es erinnert an die Welt des Franz Kafka.

Menschen sind von etwas überzeugt, erkennen ein Licht am Ende des Tunnels – setzen einen Joker für Mögliches. Gerade diese Unbestimmtheit (vgl.Luhmann,1984,149) macht den homo sapiens zum Evolutionsgewinner. Denn im Abkoppeln der Bewertung von der unmittelbaren Wahrnehmbarkeit wird eine ungeahnt Vielfalt von Versuchen – von Überschussproduktionen möglich. Trial ist nun nicht mehr an schwerfälliges strukturelles Driften (Maturana/Varela, 187) gebunden.

Dass sich durch einen einfachen, binären Schematismus die Schere für unendliche Kombinationsmöglichkeiten öffnet, hat die Kybernetik mit der Codierung 0-1 in eindrucksvoller Weise vorgeführt. So auch in der Welt aus Urteilen: Die Unterscheidung macht Sinn / macht keinen Sinn lässt sich praktisch auf alles anwenden und eröffnet unbegrenzte Möglichkeiten der Wahl – erweitert gen-storming um brain-storming.

Wie entsteht Sinn? Nach Meinung der Neurobiologie und Systemtheorie ist ein unausgelastetes Nervensystem schuld. Im Gegensatz zu anderen biologischen Informationssystemen (z. B. Hormone) bewertet das Nervensystem eine Information, bevor sie weitergeleitet wird. Und es ist das einzige Organ, das nicht unmittelbar zum Erhalt der Existenz beiträgt (vgl.: Roth 1987,269f). Überschusskapazitäten entstehen. Zwischen sensorischen und motorischen Neuronen entsteht eine gigantische Geschwulst von Interneuronen (Maturana/Varela,175), für praktisch unbegrenzt mögliches Verhalten.

Dieses Gehirn wird kreativ. Es errechnet auf zeitlicher Ebene Puffer gegen die eigene Zerfallswahrscheinlichkeit und steuert das biologische Handeln danach aus. Maturana (vgl.:2005,34ff) schildert exemplarisch die Eroberung einer neuen Dimension: aus Vorstellungen über bessere Überlebenschancen folgt Inbesitznahme von Land, Leben und Gegenständen. Machtstreben und Gewalt gegen die eigene Spezies ist untrennbar mit Sinn verbunden.

Sinn temporalisiert Informationen. Die Kommunikationsstrukturen verschieben sich auf zeitlicher Ebene. Damit fehlt die Möglichkeit einer Bestimmung (vgl.Luhmann,1984, 149). Es eröffnet sich zwar ein neuer Interaktionsbereich, Idee, Strategie und Kontrolle führen aber auf der Ebene sozialer Systeme zum Problem: Was in der Vorstellung, in der Zukunft stattfinden soll, lässt sich nicht auf der Basis von Mitempfindung vermitteln. Eine Gruppe muss sie als mögliche Wirklichkeit akzeptieren, damit Synergieeffekte entstehen können. Ein gemeinsamer somatischer Marker (vgl.: Damasio 2006, 237,f.) ist aber nicht vorhanden.

Tunnelende Es muss deshalb eine Bedeutung bei der Vermittlung im Voraus beigegeben werden. Erst jetzt wird die Unterscheidung gut/schlecht erforderlich (s. Maturana /Verden-Zöller, 27ff). Der wohl bekannteste Hinweis dafür ist der Sündenfall: die willkürliche Bewertung einer Information. Die gemeinsame Grundlage des Verstehens wird aufgegeben, statt dessen entstehen Verabredungen, Pläne – und vor allem die Vertrauensfrage.

… innerhalb staatenbildender Arten ist Individualität nur eine kurz anhaltende Fiktion.
Michel Houellebecq, Karte und Gebiet, 2012

Der Mensch wird am Du zum Ich formulierte Joachim Gauck einmal. Genauer gesagt entsteht das ich- Bewusstsein aber erst durch das Du im Sinnkontakt, denn nur willkürliche Orientierungen brauchen auch einen Vertreter – das Individuum.

Zunächst kein Problem, denn im Normalfall wächst man in eine bestehende Gemeinschaft, z.B. der Familie, auf. Aber spätestens mit Beginn des eigenständigen Lebens muss Gemeinsamkeit über Konsens gesucht und gegenseitig verstanden werden. Sinn muss zwischen Menschen zünden. Spürbar wird es beim Witz: es lachen die, die den getarnten Sinn verstanden haben. Eine Sisyphusarbeit. Denn eine Sinninformation ist immer nur dann eine Information, wenn sie von der vorherigen abweicht. Wiederholungen zählen nicht. Das zwingt zur Sprache. Nur sie kann den nötigen Abstraktionsgehalt aufnehmen und daraus nahezu beliebige Variationen in den Raum stellen.

Und jedes Einlassen auf Sinninformationen konstruiert Zeit und lenkt weg von der Gegenwart: Zum einen entscheiden wir Dinge, die erst in der Zukunft möglicherweise stattfinden sollen auf der Grundlage vergangener Erfahrungen, zum anderen können wir den Erfolg erst auswerten – in unser Bewusstsein einbauen – wenn das Ereignis längst Vergangenheit ist. Und mit jedem Stück Vergangenheit wächst zwar das Ich – aber auch die Gefahr erdrückender Enttäuschungen. Denn die Hoffnung auf Anschluss und Bestätigung wird ja mit jeder Selbstdefinition – mit immer individuellerem Zuschnitt – immer unwahrscheinlicher. Nur gelingende Synchronisation lenkt von diesem Maximalstress ab und bleibt deshalb die zentrale Aufgabe.

Heraus kommen wir nicht – denn sobald ein Bewusstsein entwickelt ist, braucht es Sinn als Nahrung. Man kann meditativ fasten, den Hunger mit Drogen unterdrücken – oder eben aktiv umdeuten und spielen.